Ein Weihnachtsmärchen… geht zu Ende.

Ich möchte euch dieses Jahr nicht auf die übliche Weise frohe Weihnachten wünschen.

comp_comp_sam_5460aIch möchte euch mal ein kleines Weihnachtsmärchen erzählen. Es war einmal…

2016 ist ein besonderes Jahr. Kein besonders schönes Jahr, aber immerhin noch besonders. Es ist Heiligabend. Es ist dunkel. Es gießt wie aus Kübeln. Ich überlege eine Arche zu bauen, damit nicht allzu viele Tiere ersaufen. Es stürmt. Der Wind zerrt am Wagen. Ich habe die Landstraße ganz für mich. Es ist dunkel. Das Radio spielt. Keine Weihnachtsmusik, sondern eher etwas trauriges. Ich bin auf dem Weg, um ein wenig Familie abzuholen, der uns noch geblieben ist. Äste, Schafe und Mülltonnen fliegen an der Windschutzscheibe vorbei. Dieses Weihnachten ist das erste, das wirklich anders ist, aber auch das letzte, dass eigentlich so ist, wie es ist.

Ich bin verwirrt. Und habe einen Kloß im Hals. 2016 ist ein komisches Jahr, aber nicht wirklich lustig. Ich habe viel gelernt. Ich habe gelernt, dass man im Leben plötzlich öfter loslassen muss, als man es erwartet. Ich habe gelernt, dass zum Leben auch scheitern dazu gehört. Und ich habe gelernt, dass nichts für immer ist. Auch dieses Weihnachten wird in Zukunft anders sein. Die traurige Musik bringt mich auf komische Gedanken. Ich denke an Herzen, die ich nicht mehr schlagen höre und an unseren Weihnachtsbaum. Ich bin nicht wirklich in Weihnachtsstimmung. Ich schaue auf die Uhr. Bis zum Weihnachtsessen ist noch Zeit. Ich fahre noch einmal kurz an die Nordsee.

Ich halte an der Straße vorm Deich an. Der Regen klatscht mit Kraft gegen die Scheiben, die Scheibenwischer wischen im Takt. Der Motor vorne brummt ruhig vor sich hin. Im Radio spielt irgendein Stimmungsdrücker. Soll ich? Ich soll. Ich stelle den Motor ab, das Licht geht aus. Ich steige aus und verschließe den Wagen. Der Regen ist kalt und klatscht mir gegen die Stirn. Der beißende Wind lässt meine Ohren prickeln. Ich stelle den Kragen meiner Jacke hoch.

Die Stufen der Treppe fühlen sich unter meinen Füßen rutschig an. Ich halte mich am nassen, hölzernen Geländer fest. Ehrgeizig steige ich die Treppen hoch.  Der Wind ist auflandig. Meine Brille ist nass vom Regen. Ich kann kaum noch etwas erkennen. Es ist eh dunkel. Meine Hände fühlen sich steif an, die Splitter des Geländers bohren sich ein bisschen in meine Finger. Ich öffne das kalte, eiserne Tor am oberen Ende der Treppe. Ich gehe hindurch. Ich bin oben. Auf dem Nordseedeich. Anstatt auf die Nordsee zu schauen, drehe ich mich um. Ich schaue auf Dithmarschen und stelle mir vor, wie es hier wohl vor dreißig Jahren war…

Vor dreißig Jahren war vieles anders, so sagte man mir. Ich schaue auf das kleine Dorf hinter dem Nordseedeich, dass ich Heimat nenne. Es gab noch richtige Winter. Mit Schnee und Eis. Und Schneeverwehungen. Der Regen hört auf, es fängt an zu schneien. Der Wind pustet mir kräftig in den Rücken. Ich spüre die nassen Schneeflocken an meinem Hinterkopf. Ich stelle mir den Kragen wieder auf. Meine kalten Ohren prickeln. Ich bekomme kalte Füße. Ich trete von einem Fuß auf den anderen, um sie zu wärmen. Unter meinen Sohlen knirscht der Schnee.

Ich kann kaum etwas erkennen. Ich stelle mir vor, dass es hell wird. Ein Brennen geht durch meine Augen. Der helle Schnee blendet trotz der dicken Wolkendecke. Ich schaue auf das kleine Dorf hinter dem Nordseedeich. Alle Dächer haben eine weiße, schwere Schicht. Die Schornsteine qualmen. Einige heizen noch mit Koks und Holz. Ich stelle mir regen Betrieb in dem kleinen Laden im Dorfmittelpunkt vor. Einige Dorfbewohner geben sich dort die Klinke in die Hand. Erbse und Mehl werden noch aus Schubladen abgewogen und in Papiertüten gepackt. Auch Bonbons gibt es nicht nur in Tüten, sondern auch noch in Gläsern. Im Lager hinter dem Laden werden Kohlensäcke und  Brennholz auf einen alten Transporter geladen.

Ich stelle mir einen alten, verschneiten Mercedes vor, wie er dieselnd durch diesen kleinen Ort fährt. Ich verfolge ihn mit meinen Augen. Er fährt vorbei an der alten Gaststätte mit der ehemaligen Tankstelle. Vorbei an dem alten Bauernhof mit den Klinkergebäuden. Ein Bauer tuckert gerade mit seinem Ferguson mit Planen-Verdeck in eine Scheune. Der Mercedes fährt langsam weiter über die verschneiten und verwehten Straßen. Vorbei an zwei Reetdachhäusern. Ich stelle mir Eisblumen an den kleinen, quadratischen Fenstern vor. Es schimmert kaum noch das dunkle Reet durch den dichten Schnee. Aus den Schornsteinen steigt leicht bräunlicher Qualm auf. Auf der Auffahrt des einen Reetdachhauses stelle ich mir unter einer dicken Schneeschicht den neuen BMW des bekannten Liedtexters vor, der das Haus als seinen Wochenendsitz nutzt. Es wird Tage dauern, bis er seinen Wagen dort wieder herausgebuddelt hat.

Hinter den Reetdachhäusern sehe ich auf einen kleinen Feldweg. Ich stelle mir eine ältere, kleine Dame vor, die auf dem Weg entlang läuft. Ihr gepunktetes Kopftuch ist schon leicht eingeschneit. Sie trägt einen alten Mantel offen und, wie jeden Tag, eine Schürze. Sie läuft vorsichtig auf den glatten Platten des Feldwegs entlang. In ihrer rechten Hand eine volle Milchkanne. Schön gekühlt und nicht mehr kuh-warm. Ich stelle mir auf der Milch schon die dicke Schicht Sahne vor. Das andere Ende des Feldwegs führt zu einem großen, weißen Haus mit dunklem Dach auf einer Warft. Der Schornstein der Ölheizung qualmt, das Dach ist weiß. Ich stelle mir vor, wie ein damals neuer Passat Variant Diesel in Kalaharibeige mit dem kleinen Anhänger vorsichtig die Auffahrt herunter- und nagelnd an der älteren, kleinen Frau vorbeifährt. Sie grüßt noch einmal und macht sich weiter auf den Weg nach Hause, um die Hühner noch zu füttern.

Ich stelle mir vor, wie der Kombi langsam über die verschneiten Straßen Dithmarschens fährt. In dem Auto sitzen zwei junge Leute. Am Steuer ein sportlicher junger Mann mit comp_comp_passat-32b-1lockiger Mähne, auf dem Beifahrersitz eine junge Frau mit halblangen Haaren. Ich stelle mir vor, dass ich fliegen kann, um die beiden zu verfolgen. Das Gespann zieht mit etwas Qualm und Ruß aus dem Auspuff weiter über die verschneiten und verwehten Straßen Dithmarschen. Im Marschland meist nur vorbei an verschneiten und verwehten Feldern. Ich stelle mir blattlose Bäume mit weißen Kronen vor. Auf der Geest gibt es mehr Wälder. Ich stelle mir vor, wie das Gespann durch die Ansammlung von schneeschweren Bäumen fährt. Es springt kein Reh über die Straßen, andere Autos fahren auch nur langsam. Winterreifen waren noch nicht so im Trend.

Nach einiger Zeit erreichen die beiden ihr Ziel. Die große Eiche verdeckt fast komplett die Sicht auf den kleinen Resthof, irgendwo in der Dithmarscher Geest. Sie biegen ein und comp_comp_sam_5464afahren vorbei an dem alten Silo, der alte Scheune und dem blechernen Schuppen. Vor der Tannenbaumschonung verstummt der Dieselmotor. Ein kleiner, älterer Herr geht zum Auto und begrüßt die beiden. Er trägt eine dicke, dunkelgrüne Winterjacke. An den Gläsern seiner goldenen Brille perlt der Schnee ab. Auf seinem Kopf eine grüne Mütze mit Ohrenklappen. Seine Füße stecken in ebenfalls grünen Gummistiefeln mit Felleinlage.

Der junge Mann und die junge Frau steigen aus dem Auto aus. Sie nehmen sich ihre gelbe Säge aus dem Kofferraum und machen sich auf den Weg in die Schonung, um eine Blaufichte abzusägen. Die stabileren Äste dieser Tanne sind besser für echte Kerzen geeignet. Es ist der Start einer Tradition.

Ich bin wieder auf dem Deich. Der Regen peitscht mir immer noch in den Rücken. Ich spüre meine Hände in den Jackentaschen praktisch nicht mehr. Ich stelle mir das ganze Szenario fünfzehn Jahre später vor. Es liegt Schnee, die Dächer des kleinen Dorfes sind weiß. Es wird meist mit Öl und Gas geheizt. Der kleine Tante-Emma-Laden im Dorfzentrum hat schon ein comp_comp_sam_5459apaar Jahre geschlossen, die alte Gaststätte wurde schon lange abgerissen. Der bekannte Liedtexter starb vor einigen Jahren, vor dem Haus steht nun ein weißes BMW-Cabrio einer einsamen Psychologin. Der weiße Mercedes Diesel fährt am Haus vorbei. Eine kleine, ältere Frau läuft langsam über die verschneiten Platten des Plattenwegs. Sie hat keine Milch dabei, sie hatte sich nur einmal nett mit der Bauersfrau unterhalten. Von der Auffahrt des großen, weißen Hauses fährt ein neuer, blauer Passat Variant Diesel mit dem Anhänger vorsichtig herunter und dann an der älteren, kleinen Frau mit dem Kopftuch, dem alten Mantel und der Schürze vorbei. Sie grüßt. In dem Auto sitzen wieder der junge Mann und die junge Frau. Nur halt fünfzehn Jahre älter. Auf der Rücksitzbank sitzt in einem rot-gelben Kindersitz  ein kleiner blonder Junge in einem rot-blauen Schneeanzug, der wie ein Wasserfall redet und seiner Oma durch die Seitenscheibe winkt.

Sie fahren über die verschneiten Straßen Dithmarschen. Hinter dem Gespann fährt eine neue, silberne Passat Limousine. Ich stelle mir vor, wie die Freunde des jungen Ehepaars stolz mit ihrem neuen Wagen das erste Mal zum Weihnachtsbaumschlagen fahren. Die alte, comp_comp_sam_5467ablaue Passat Limousine hatte ihre Dienste vorher gut getan und verbrachte diese Weihnachten in wärmeren Regionen Afrikas. Hinter der großen alten Eiche biegt der Konvoi ein. Vorbei an dem alten Silo, der alten Scheune und dem blechernen Schuppen. Vor der Tannenbaumschonung verstummen die Motoren. Ein kleiner, älterer Mann in einer dicken, grünen Winterjacke, einer grünen Mütze mit Ohrenklappen und grünen Gummistiefeln mit Felleinlage begrüßt alle Leute. Der kleine, quasselnde Junge bekommt einen kleinen Schokoladenweihnachtsmann geschenkt. Es wird noch die gelbe Säge aus dem Kofferraum genommen. Der kleine Junge freut sich darüber drei Weihnachtsbäume aussuchen zu dürfen. Einen für seine Eltern und je einen für seine Omas. Er nimmt seine Mutter an die Hand und zieht sie in die Schonung. Die anderen folgen ihr lachend.

Ich stehe wieder auf dem Deich. Es wird mir langsam zu kalt. Langsam gehe ich zum eisernen Tor vor der Treppe. Es hakt ein bisschen beim Aufmachen. Ich stelle mir wieder comp_comp_sam_5471adieses Dorf vor. Noch einmal fünfzehn Jahre später. Es liegt kein Schnee mehr auf den Dächern, Sonnenkollektoren können also gut funktionieren. Der Mercedes Diesel fährt vorbei an einem Tesla mit leerem Akku. Auf der Auffahrt des Reetdachhauses steht ein schwarzer BMW eines Ingenieurs. Die ältere, kleine Frau läuft nicht mehr über die Platten des Plattenwegs. Ein grauer, neuer Passat Variant Diesel mit Anhänger fährt von der Auffahrt des großen weißen Hauses herunter und nagelnd über den Feldweg an grünen Weiden vorbei. Am Steuer sitzt ein junger, bärtiger Mann mit strubbeligen Haaren. Auf dem Beifahrersitz der junge Mann von damals, auf der Rücksitzbank die junge Frau.

Hinter dem Gespann fährt eine silberne Audi A4 Limousine, der silberne Passat verbringt einige Weihnachten schon in wärmeren Regionen Afrikas. Alle freuen sich schon auf ihren Tannenbaum. Erst dann fängt Weihnachten richtig an. Hinter der großen Eiche biegt das comp_comp_sam_5465aGespann auf den Resthof und fährt vorbei an dem alten Silo, der alten Scheune und dem blechernen Schuppen. Vor der Schonung verstummen die Motoren. Ein älterer, kleiner Mann begrüßt die Leute. Er trägt eine grüne, dicke Winterjacke, grüne Stiefel mit Felleinlage und eine grüne Pudelmütze. Der junge, bärtige Mann nimmt die gelbe Säge aus dem Kofferraum und geht mit den anderen in die Schonung. Sie finden wie jedes Jahr eine schöne Blaufichte und sägt sie ab. Er freut sich, da er dieses Jahr noch einen zweiten Tannenbaum aussuchen darf. „Jetzt fängt Weihnachten erst an“, sagt er zu seiner Mutter. Sie gibt ihm Recht. Es werden ein paar Tannenbäume auf den Anhänger verladen und verzurrt. Der junge Mann geht zu dem älteren, kleinen Herrn mit der grünen Jacke und zahlt die beiden Tannenbäume. Die Gruppe unterhält sich mit ihm. Der kleine, ältere Herr schenkt einem kleinen Jungen einen Schokoladenweihnachtsmann.

Mit „Bis zum nächsten Jahr“ möchte sich der junge, bärtige Mann händeschüttelnd von dem kleinen, älteren Mann mit der Pudelmütze verabschieden. „Nächstes Jahr gibt es nicht mehr“, sagt er, allerdings auf Plattdeutsch. Er sei nun fast neunzig, er wolle nun aufhören. Es wird sich trotzdem verabschiedet.

Ich gehe die Stufen der Deichtreppe herunter und steige in den grauen Passat. Ich bin durch und durch nass, meine Ohren prickeln, meine Hände können kaum noch das Lenkrad comp_comp_sam_5468aumfassen. 2016 ist das Jahr das Veränderung. Es keine schönen Veränderungen. Ich werde etwas traurig. Aber man muss auch wirklich einmal loslassen können. Ich starte den Motor und fahre weiterhin durch die stürmische Dunkelheit Dithmarschens. Ich komme irgendwann an, in der fünfziger Jahre-Siedlung eines größeren Dorfes in der Geest Dithmarschens. Ich lege den Rückwärtsgang ein und fahre rückwärts auf die Auffahrt zwischen den beiden großen Hecken. Ich steige aus und klingele an der Tür, um den übergebliebenen Teil meiner Familie abzuholen. Ich freue mich auf einmal doch schon auf das Weihnachtsessen und ein paar lustige Stunden. Es war kein leichtes Jahr und auch wirklich nicht immer fröhlich. Und trotzdem muss ich lachen, als ich mit „Du bist ja ganz nass, mein Jung!“ begrüßt werde.

Man sollte die Zeit halt so lange genießen, so lange es noch geht.

In diesem Sinne – frohe Weihnachten.

Über Watt'n Schrauber

Autoverrückt, restauriert einen Buckelvolvo mit wenig Budget, mag Fotografieren, Tanzen und ist manchmal wohl ein wenig durcheinander. Und mag Norddeutschland.
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0 Antworten zu Ein Weihnachtsmärchen… geht zu Ende.

  1. Telse Reichardt sagt:

    Hallo Lars, das ist eine wunderschöne Geschichte. Sie macht mich nachdenklich und ein bisschen traurig, aber sie weckt auch viele Erinnerungen in mir. Z.B. hatte mein Onkel so einen Dorfladen und in den Ferien durfte ich immer helfen. Ich habe dann loses Mehl in Tüten abgewogen oder mit einer kleinen silbrigen Schaufel versucht, zusammengeklebte Pfefferminzbonbons auseinanderen zu kriegen. Das ist inzwischen 54 Jahre her, aber ich erinnere mich immer noch gerne daran. Vielen Dank für diese schöne Geschichte!

    • Moin Moin,
      vielen Dank für den netten Kommentar!
      Ich kenne die Dorfläden ja nur noch aus Erzählungen. Wobei ich mich vielleicht gerade noch so an den letzten Laden hier im Ort erinnern kann. Zumindest habe ich irgendwie so ein Bild mit dunklen Regalen im Hinterkopf. Da der Laden 1998 oder 1999 zugemacht hat, könnte es ja noch passen.

      Ansonsten kenne ich die nur noch aus dem Heimatmuseum in Meldorf oder aus Erzählungen meiner Eltern. Schade, eigentlich. Ist ja eigentlich doch persönlicher.
      Schöne Grüße
      Lars

  2. Pingback: Weg mit dem Schmutz – Tschüss 2016! | Watt'n Schrauber.

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