Kein besonderes Ziel.

Chuck Berry ist tot. Lange lebe Chuck Berry! Ihm zu Ehren bin ich ein Stück gefahren.

Heute geht es ums Cruisen. Warum verfährt man eigentlich so oft sinnlos Sprit?

Es muss so vier Uhr morgens gewesen sein. An einem Freitag. Oder Sonntag. Tage sind relativ. Ein schwarzer Volvo Kombi rollt langsam über den „Kiez“ Dithmarschens. Fast so ein bisschen wie die Reeperbahn. Nur kleiner. Und weniger Bordelle. Glaube ich. Das Licht der Leuchtreklame spiegelt sich im Lack, das Licht der Scheinwerfer und der orangefarbenen Sidemarkers im Schaufenster. Die Passanten glotzen auf den Wagen. Alle vier Fenster sind heruntergelassen. Die vier Insassen, zwei Mädels, zwei Jungs sind in Abendkleid und Anzug gehüllt. Auf ihrer Nase dunkle Sonnenbrillen, der Fahrer hat einen  Hut auf. Das Radio des Kombis spielt ganz laut „Chuck Berry“ mit „No particular place to go“. Es sieht wohl ulkig aus, denn selbst die Polizisten, an denen der Wagen vorbei schleicht, halten das komische Gefährt nicht an, sondern lachen laut und schauen dem Licht der Rücklichter hinterher, bis der Wagen abbiegt.

So ist es vor ein paar Jahren passiert. Der Fahrer mit dem Hut war ich und das Auto war meins. Nein, ist meins. Wir kamen von irgendeinem Ball, waren aber noch hellwach und gut gelaunt. Oft gingen die Partys in meinem Auto weiter, während wir einfach nur so durch Dithmarschen cruisten mit einem Ziel im Kopf, mit Musik im Ohr und aus dem Hals, nur, um kurz vor dem Ziel ein anderes zu setzen und in eine komplett andere Richtung fuhren. Kein besonderes Ziel. Oft war Chuck Berry dabei. No particular place to go. Einige Leute fanden (oder finden?) mich wohl komisch, dass ich mit Wackeldackel, Hut und Chuck Berry mit einem Volvo durch die Gegend fuhr. Viele fanden es lustig.

Das Wetter ist scheiße. Aber mal so richtig. Es regnet den ganzen Tag lang, nicht einmal kommt die Sonne hindurch. Grauer Himmel, graue Gedanken. Chuck Berry ist tot. Er ist mit 90 Jahren gestorben. Ein stolzes Alter. Normalerweise gehe ich auf den Tod von Prominenten nicht so wirklich ein. Es sind auch „nur“ Menschen. Wirklich traurig war ich nur, als Peter Lustig starb. Aber dieser Sonntag ist anders. Ich habe ein paar Gedanken zu sortieren, ansonsten nichts zu tun und Lust auf meine Chuck Berry CD. Ich setze mich in meinen Volvo, starte den Motor und rolle los. Ein besonderes Ziel habe ich nicht. Aber eines im Hinterkopf. Vielleicht fällt mir auf dem Weg dahin ein Besseres ein.

Ich habe das mal sehr oft gemacht. Mir ging es eine Zeit lang mal nicht so gut. Da habe ich dann entweder an Elsa gesetzt und habe geschraubt oder ich habe mich hinter das Steuer meines Volvo V40 gesetzt, bin durch die Gegend gefahren und habe dabei Musik gehört, gesungen und meine Gedanken oft sortiert. Chuck Berry lief oft. Nicht, weil ich es lustig fand, sondern weil ich die Musik mag. Tokio Hotel und Konsorten sind nicht so mein Fall. Dann würde ich wohl auch einen Golf besitzen und keinen 60 Jahre alten Buckelvolvo. Obwohl… ich hab ja sogar eineinhalb Golf. Naja. Ihr wisst, was ich meine.

Der Regen peitscht gegen die Scheibe meines Autos. Die Straßen sind leer. Ich bin das einzige Auto, dass am Bahnübergang anhält, um den fast leeren Zug nach St. Peter-Ording durch zu lassen. Bei dem Wetter mag man keinen Hund vor die Tür schicken. Und auch selbst nicht gehen. Auch die Straßen des kleinen Städtchens, durch das meine Reifen langsam rollen, sind wie leer gefegt. Menschen mögen ungerne aus ihrer „Komfortzone“ raus. Ist der Weg des geringsten Widerstandes der beste Weg? Ich bin mir nicht sicher. Und außer mit meinem Diesel-Golf den Weg auch noch nicht so oft gegangen. Ich habe mir immer wieder Herausforderungen gesucht. Dieses Mal weiß ich nicht, ob es die richtige Herausforderung ist. Eigentlich weiß ich es schon. Der Bauch sagt ja, aber der Kopf ist verwirrt. Chaos. Alles ganz frisch, vorher noch nie da.

Roll over Beethoven.

Der Blinker meines Autos tickt im Takt, der Regen passt nicht so ganz dazu. Der Motor brummt kaum hörbar vor meinen Füßen. Ich schalte hoch, beschleunige gleichmäßig und fahre aus dem Ort hinaus. Fünfter Gang. Es heißt ja, man solle auf seinen Bauch hören. Unvernunft macht glücklich. Die Straßen sind frei, ich singe mit. Run, run, Rudolph. Wobei mein „Rudolph“ weder ein Diesel noch ein Rentier ist. Eher ein 14 Jahre alter, schwarzer Volvo Kombi. Aber es ist ja auch nicht Weihnachten. Ich halte auf einer einsamen Landstraße irgendwo im Nirgendwo an, um ein Foto zu machen. Ich stelle den Wagen ab, drücke die Tür gegen den Wind auf und bekomme sofort feinsten Nieselregen in das Gesicht. Er peitscht sogar unter meine Brille und zieht scharf in meine Augen. Maybellene. Why can’t you be true? Ich mache das Foto, schaue einmal auf die platte Landschaft, steige wieder ein, lege den ersten Gang ein, biege vor meinem eigentlich Ziel vorher ab und denke mir, dass eine andere Strecke nach Hause irgendwie schön wäre.

Irgendwann ist meine Chuck-Berry-CD einmal durchgespielt. Das Volvo-Radio will wieder von vorne beginnen, ich schalte auf die Radiosender um. Es spielen the Proclaimers mit „500 Miles“. So viel bin ich heute nicht gefahren. Ich fahre wieder unter das Carport und stelle den Motor ab. Mir geht es wesentlich besser. Meine Gedanken brauchen noch Zeit. Gerade, als ich den Zündschlüssel ziehen will, fängt im Radio „Legendary“ von Weshly Arms an.

Ich starte den Motor, lege einen Gang ein und fahre los. Wohin? Egal.

Ich habe kein besonderes Ziel.

Über Watt'n Schrauber

Autoverrückt, restauriert einen Buckelvolvo mit wenig Budget, mag Fotografieren, Tanzen und ist manchmal wohl ein wenig durcheinander. Und mag Norddeutschland.
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6 Antworten zu Kein besonderes Ziel.

  1. marcrudin sagt:

    Du musst Künstler werden mein Junge. 🙂

  2. Pingback: Freundschaft feiern. | Watt'n Schrauber.

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