Heute.

Ein Glas Wein, eine Zigarre oder ein Pc-Spiel. Der Mensch muss genießen und entspannenIch mache das anders. Am Steuer eines Autos und ganz ohne Ziel. Einfach mal ausbrechen

Es ist halb fünf. Morgens. Die Natur wacht langsam auf. Die ersten Tautropfen plumpsen müde von den dunkelgrünen Grashalmen auf den Boden und versickern ganz gemütlich. Der Nebel steigt langsam aus dem Boden und legt sich wie ein Schleier schwer auf die Wiesen und Wälder. Es weht kein Wind. Auf dem kleinen Bach erledigen planschend ein paar Enten ihre Morgentoilette. Mein Volvo steht am Straßenrand und brummt leise und zufrieden vor sich hin. Fast sind wir in Dänemark, doch diese Pause musste sein. Die Straßen sind leer, im Radio spielt „Nevermind“. Ich sitze auf der Ladekante des Kofferraums und schaue mir an, wie das dunkle Blau der Nacht so langsam dem fröhlichen Orange der ersten Sommer-Sonnenstrahlen weicht.

Irgendwann schwinge ich mich wieder hinter das Steuer meines treuen Gefährten, die Sonne ist noch nicht ganz zu sehen. Ich lege den ersten Gang ein und rolle weiter in Richtung Norden. Der Nebel lässt die Seitenspiegel beschlagen. Aber ich fahre ja auch vorwärts und nicht zurück. Mein Ziel? Ganz egal. Aber das muss auch mal so sein.

Guten Morgen, Welt.

Ich weiß, ihr wollt wahrscheinlich lieber Schrauber-Berichte lesen und mich auslachen, dass ich schon wieder einen rostigen Kübel gekauft habe, der mir das Leben schwer macht. Doch wenn ihr das heute erwartet, dann könnt ihr ruhig wegklicken. Heute wird nicht geschraubt. Heute wird gefahren. Und gedacht. Eigentlich wollte ich diesen Text, den ich diesen Sommer geschrieben habe, nie veröffentlichen, doch irgendwie ist er mir zu schade in den Tiefen der Festplatte zu verschimmeln. Also, hier ist er. Keine Unterhaltung, kein Rost, keine Oldtimer. Ein Text ausnahmsweise mal ganz und gar nur für mich.

Mensch, bist du noch müde.

Langsam gleitet mein Kombi über den glatten Teer. So wirklich hat sich der Nebel noch nicht verzogen. Noch immer hat sich die Erde unter einen tiefen, schweren, daunenartigen Nebeldecke verkrochen. Ich versuche, die Decke zu lüften, doch die Welt ist noch müde und deckt sich schneller wieder zu als ich meinen alten Volvo jemals bewegen könnte. „Nur noch fünf Minuten…“ scheint sie dabei zu murren. Wohl auch ganz gut so. Erst jetzt wird mir bewusst, dass ich diese Schönheit, die sich vor mir abspielt, in diesem Moment nur genießen kann, weil halt alles noch schläft. Eigentlich hatte ich mir genau aus diesem Grund auch den Wecker auf halb vier gestellt und bin sofort fröhlich aus den Federn gehüpft. Ich wollte das sehen, was alle verschlafen. Und so früh morgens konnte mich nicht einmal die Hitze stören, die diesen Sommer so geprägt hat.

Es muss ja nicht immer alles einen Sinn ergeben.

Die Straßen sind leer. Weit und breit scheine ich der einzige Mensch zu sein. Doch ein Gefühl von Einsamkeit kommt nicht in mir hoch. Warum auch? Eher das Gefühl von Glück. Und Freude. Schon lange wollte ich es einmal gemacht haben. Einfach mal ganz früh morgens hoch und schauen, wie der Tag beginnt. Und vielleicht dabei ein Bild vom Sonnenaufgang knipsen, was sich gut in meiner Küche machen würde. „Ich mache das irgendwann einmal!“, dachte ich mir. Doch davon ist es nicht getan. Machen muss man und nicht immer nur vor sich herschieben. Auch, wenn es wahrscheinlich keiner versteht. Schließlich wollen alle immer ausschlafen. Und verpassen dabei so viel. Ich entdecke einen kleinen Schotterweg, den bestimmt seit Monaten kein Mensch mehr entlang gefahren ist. Das Gras wuchert hoch und lang. Ein Verbotsschild steht dort nicht. Ich setze den Blinker und fahre hinein. Der Schotter knirscht müde unter den Rädern. Das lange Gras scheint meinen Elchen am Bauch zu kitzeln. Es hört sich an, als würde er kichern.

Ein guter Freund.

Ja, so kann ich ihn bezeichnen. Wobei ich dafür wahrscheinlich eingewiesen gehöre. Seit sechs Jahren ist er an meiner Seite und macht fast alle Dinge, die ich von ihm verlange. Nur eine zeitlang war es zu viel und alles ging kaputt. Doch das habe ich ihm verziehen. Wahrscheinlich bin ich der einzige, der ihn mag. Für die einen ist er einfach nur ein Auto. Für Volvo-Fans ist er kein richtiger Volvo, weil er in den Niederlanden gebaut wurde und japanische Gene in sich trägt. Und für selbsternannte Umweltschützer ist er sowieso ein Skandal, weil er kein Fahrrad ist. Doch für mich ist er mehr. Ein treuer Gefährte, ein Kumpel. Ein guter Freund. In sechs Jahren habe ich mehr mit dem Wagen erlebt als einige Menschen es in ihrem Leben tun. Er trug mich zu Beerdigungen genauso wie zu feuchtfröhlichen Feiern. Schallendes Gelächter erhallte fröhlich in seinem Innenraum, er hielt aber genauso die erdrückende Stille tiefer Trauer aus. Überall im Auto finden sich Spuren vergangener Reisen, Emotionen und Momente, die ich mit ihm erlebt habe. Die dänischen Kronen klappern in der Seitentasche, als wir auf die alte Holzbrücke rollen. Ich nehme den Gang raus, ziehe die Handbremse an und steige aus.

Die Natur erwacht.

Das Holz des Geländers drückt sich langsam in die Haut meiner Unterarme. Ein paar Vögel dümpeln müde auf dem stillen Wasser des ehemaligen Priels. Als sie mich entdecken, starten sie durch in ihren neuen Tag. Kurz bekomme ich ein schlechtes Gewissen, sie aufgeschreckt zu haben, aber wahrscheinlich werden sie sich woanders wieder zur Ruhe begeben und den Sonnenaufgang ebenfalls verschlafen. Irgendwie wird er ja stiefmütterlich behandelt. Der Sonnenuntergang ist der große Star. Er soll ja romantisch sein und oft genug kann ich es bei der Schönheit verstehen. Doch irgendwie denke ich darüber nach, ob der Sonnenuntergang nicht eher für Abschied steht. Schließlich geht ja ein Tag zu Ende. Wenn es ein guter Tag war, dann wird man ihn wohl genießen können, doch wenn es ein schlechter Tag war, was dann? Ist man dann froh, dass der Tag endlich vorbei ist? Oder nimmt man sich beim Anblick des goldgelben Farbspektakel vor, den nächsten Tag besser zu machen? Die meisten Leute werden ihre Vorsätze im Schlaf sowieso vergessen haben.

Vergangenes kann man nicht planen.

Wenn der Blick zurück für eines gut ist, dann, um aus Fehlern zu lernen. Doch ist der Anbruch eines neuen Tages nicht viel interessanter? Ein Tag, der vor einem liegt wie eine rohe Töpfermasse, die nur darauf wartet geformt zu werden? Ein Tag, an dem man Abenteuer erleben und neue Menschen kennenlernen kann, wenn man nur offen und neugierig durch die Welt geht? Langsam wärmt die aufgehende Sonne die Haut auf meinen Unterarmen. Auf einmal wird mir noch viel mehr bewusst, dass man häufig einfach mal machen sollte. Einfach mal etwas riskieren. Natürlich nicht wie Yolo-Jünger, die ohne Rücksicht auf Verluste und andere Menschen durch die Weltgeschichte laufen, aber ein immer unzufriedener Sofa-Pupser mag ja auch niemand sein. Einen gesunden Mittelweg sollte man finden. Ab und zu einfach mal aus dem Alltag ausbrechen. Ohne Ziel. Oder mit. Ist ja auch egal.

Dänemark wartet.

Ich gehe über die leicht nachgebenden Bretter der alten Holzbrücke zurück zu meinem Auto, das immer noch leise brummend auf mich wartet. Ich öffne die Fahrertür, leise säuselt das Radio irgendein aufmunternd klingendes Lied. Es kommt mir nicht bekannt vor, aber auch das ist mir wieder egal. Den Namen des Sängers werde ich in zehn Minuten sowieso wieder vergessen haben, also mache ich mir die Gedanken gar nicht erst. Ich mache die Handbremse los, lege den ersten Gang wieder ein und fahre weiter. Irgendwann wird der Schotterweg wieder zu einer Teerstraße. Er führt mich nicht zur Hauptstrecke nach Dänemark, doch das gefällt mir gerade so gut.

Und zum Frühstück HotDog.

Ein paar Tage zuvor war ich schon einmal in diesem kleinen Ort – und als ich das Ortschild sah, war ich mir sicher, dass das mein Ziel sein sollte. Die hübsche Dame am HotDog-Stand macht gerade die Jalousie hoch, als ich meinen Kombi direkt davor abstelle. Lächelnd nimmt sie meine Bestellung entgegen und fragt mich mit nur einem Hauch dänischen Akzent, was ich denn so früh hier schon machen würde. Ich erzähle ihr von der Sache mit dem Sonnenaufgang und den Fotos. Vielleicht versteht sie mich nicht so ganz, aber zumindest gibt sie mir noch den Tipp für einen einsamen Sand- und Kiesstrand in der Nähe. Mein HotDog ist noch nicht ganz verspeist, als ich mich von ihr verabschiede und ihrem Tipp nachgehe. Bestimmt eineinhalb Stunden sitze ich im Kies und lausche den Geschichten der Nordsee. Es ist noch nicht einmal neun Uhr, als die Hitze so langsam kommt und ich mich wieder auf den Heimweg mache. Ich habe heute noch viel vor. Und langweilig wird es nun bestimmt nicht mehr.

Es hat etwas von Urlaub.

Seit diesem kleinen Ausbruch aus dem Alltag an einem Dienstagmorgen im Juli sind natürlich schon einige Monate vergangen. In der Zwischenzeit machte ich mit meinem alten Mercedes „Hein“ einen kleinen Roadtrip, der auch zum echten Abenteuer wurde – aber vielleicht habt ihr das ja gelesen. Doch auch seit meiner Tour durch Europa überkam es mich schon einige Male und ich fand  mich am Steuer des schwarzen Kombis entgegen. Eigentlich ohne Ziel, immer der Nase nach. Es ist purer Genuss für mich. Wie für andere Leute ein Glas Wein oder ein Steak – oder das Spielen eines Videospiels. Und das können sie ja auch ruhig tun – aber für mich ist das nicht wirklich etwas. Ich entdecke mit meinem Kumpel lieber die Welt. Denn eines weiß ich ganz gewiss:

Zu entdecken gibt es da draußen noch mehr als genug.

Watt'n Schrauber

Autoverrückt, restauriert einen Buckelvolvo mit wenig Budget, mag Fotografieren, Tanzen und ist manchmal wohl ein wenig durcheinander. Und mag Norddeutschland.

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2 Responses

  1. dieter sagt:

    Wunderschöne Geschichte, du sprichst mir sowas von aus dem Herzen.
    Auch ich liebe es am Morgen aufzustehen und in den erwachenden Tag zu fahren, einfach ein Traum.
    Hoffe du hältst mich nicht für komplett verrückt, aber z.B. diesen Sommer war ich ein Paar mal mit meinem Alfa 156 V6 am Gr0ßglockner ab 5:00 Uhr ist dort geöffnet und die Straße den Berg hoch und das Orchestra Italiana aus Sechszylindern unter der Motorhaube tut ein übriges um den Tag großartig werden zu lassen.

    Mach weiter mit solchen Geschichten die gehören einfach dazu, und ich kann dich gut verstehen.

    Gruß

    dieter

    • LarsDithmarschen sagt:

      Hallo Dieter,

      dein Kommentar war im Spam-Ordner gelandet. Warum auch immer – nun kann man ihn lesen.

      Ich halte dich auf keinen Fall verrückt, dass du morgens früh aufstehst, um einmal über den Großglockner zu fahren. Vor einigen Wochen durfte ich mich auch einmal am Steuer eines Alfa Romeos wiederfinden und muss sagen – seitdem bin ich auch von dem Alfa-Virus infiziert worden. Es war zwar kein Sechszylinder, aber so ein Doppelnocker reizt mich auch schon. Wie lange fährst du deinen 156 denn schon?

      Schöne Grüße
      Lars

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