Eis am Stiel

Das Leben als Oldtimerfahrer sorgt immer wieder für neue und lustige Geschichten. Meist passieren die Geschichten dann, wenn man sie nicht erwartet. Heute kaufe ich Eis.

„Sie haben aber einen tollen Einkaufswagen!“

Ich zucke kurz zusammen, als ich die Stimme plötzlich hinter mir höre. Ich hatte die nette Dame hinter der Maske gar nicht kommen hören, zu sehr war ich damit beschäftigt mich zu fragen, warum zum Teufel ich mir schon das Eis am Stiel gekauft hatte – und nicht beim Supermarkt, von dem ich nur zehn Minuten nach Hause fahre anstatt dreißig. „Oh, dankeschön!“, antworte ich ihr, als ich die kalte Eispackung noch in der Hand halte. „Darf ich einmal schauen?“, fragt sie vorsichtig und deutet in Richtung Fahrertür. „Aber natürlich“, sage und ich lege das Eis in die hinterste Ecke des Kofferraums – mit der Hoffnung, dass das der kälteste Platz im Auto ist. „Hui, wie schön, noch so ein herrliches Bakelit-Lenkrad. Wie alt ist der Volvo denn?“ „Baujahr 1957“, antworte ich. „Sie heißt übrigens Elsa.“ Kurz schaut sie mich etwas verdutzt an – wie so viele Leute, denen ich den Namen meines Buckelvolvos verrate, die es aber komischerweise ungewöhnlich finden, dass man einem Auto einen Namen gibt. „Soso, Elsa.“ Ich höre einen leicht ironischen Unterton in ihrer Stimme – garniert mit einer leichten „Irgendwie-ist-der-nicht-ganz-dicht-aber-lustig“-Tonlage. Auch das ist mir nicht ganz unbekannt. „Dann ist Elsa ja schon 64 Jahre alt!“, ruft sie plötzlich verwundert. „Ganz genau“, antworte ich Schatten suchend, kann aber keinen finden.

„Jaja, der Buckelvolvo. Das waren noch stabile Autos.“

Auch den älteren Herrn habe ich nicht kommen hören. Sein linkes Brillenglas ist durch die OP-Maske beschlagen und seine Ohren stehen durch das straffe Gummi wohl genauso ab wie meine. „Was ist denn das für ein Baujahr?“, fragt er und scheint zu lächeln. „1957!“ antwortet die Frau, die immer noch durch die Seitenscheibe von Elsa schaut. „Da haben Sie aber ein schönes Auto!“, freut sich der Herr und geht auf die Beifahrerseite, um dort durch das Fenster zu gucken. Plötzlich schießt mir der Einkauf wieder durch den Kopf, sage ein flottes „Dankeschön!“ und packte schnell den Sack mit den Kartoffeln in den Kofferraum, bevor sie in der Sonne zu Ofenkartoffeln werden. „Wie viel schluckt er denn?“, ruft der ältere Herr nach hinten. „8,5 Liter Super auf 100“, antworte ich wahrheitsgemäß und wuchte die Kiste mit Mineralwasser in den Kofferraum. Sofort steht mir noch mehr Schweiß auf der Stirn und überlege, hier schon eine Flasche zu köpfen – aber warmes Mineralwasser schmeckt in etwa so gut wie das Wasser im Nord-Ostsee-Kanal. Fragt lieber nicht, woher ich das weiß.

„Ich hätte ja nie gedacht, dass so viel in den Kofferraum passt.“

Ich überlege noch, ob es an der Hitze liegt oder ich einen Termin beim Ohrenarzt machen sollte, als ich mich umdrehe und wieder in ein neues Gesicht schaue. Ein junger Mann in zerfetzten Jeans, einer roten Karo-Jacke und einer Mütze, die mir wohl selbst im Winter zu warm wäre, steht vor mir und lächelt. „Geiles Auto! Ist das deiner?“, fragt er mich, während ich es weiter belade. „Ähm.. jau, danke!“, antworte ich ihm – etwas zögernd, ob er wirklich denkt, dass ich gerade ein fremdes Auto belade. „Was ist denn das für ein Baujahr?“, fragt mich der hippe Typ. „1957!“ antwortet der ältere Herr, der immer noch durch die Seitenscheibe schielt. „Und das Auto heißt Elsa“, sagt die Frau, die inzwischen mit ihrem Handy ein paar Detailaufnahmen von meinem Volvo schießt. „Elsa, geil!“, antwortet er, kratzt sich den Kopf durch die Mütze. „Und was ist da für ‚ne Maschine drin?“ – „Ein 1,6 Liter-Vierzylinder mit 68 PS“, erzähle ich ihm, während ich das Klopapier in den Kofferraum packe, die Klappe zu mache und ihn abschließe. „Cooles Teil. Wat kostet sowas denn?“, höre ich ihn aus der Entfernung sagen, als ich meinen Euro aus dem Schloss vom Einkaufswagen nehme und ihn mir in die Hosentasche stecke.

„Och, das kommt ganz drauf an.“

„Wenn man Glück hat, bekommt man die auch schon mal günstig“, sage ich zu allen dreien, die brav im Abstand und mit Maske um Elsa herumstehen. Komischerweise habe ich in den letzten eineinhalb Jahren nur zwei, drei Mal mitbekommen, dass sich Leute auf dem Land an die Abstandsregeln gehalten haben. In der Stadt war es deutlich häufiger. Aber egal. Ich schließe die Fahrertür auf. „Das Eis muss nun langsam nach Hause in die Truhe“, denke ich mir, als ich die Tür öffne. Gerade, als ich allen dreien noch einen schönen Tag wünschen will, kommt eine junge Frau angerannt. „Ach hier bist du!“ ruft sie. Der hippe Typ verzieht keine Miene. Auch sie trägt eine rote Karo-Jacke und eine verwaschene und zerfetzte Jeans. Kurz stelle ich mir vor, wie die beiden über die ganzen Jack-Wolfskin-Touristen lachen, die stets im Partnerlook, aber trotzdem gefühlt zwei Meter auseinander über die Promenade in St. Peter-Ording oder durch die Fußgängerzone in Büsum laufen – und sie selbst sind gar nicht anders. „Das ist aber ein cooles Auto!“, ruft die Freundin des hippen Typen. „Darf ich mal von innen gucken?“

„Aber natürlich!“, sage ich ihr und denke erst kurz danach an das Wassereis mit Orangen-Geschmack, das im Kofferraum bestimmt langsam auftaut. „Bensin! Wie krass!“, sagt sie und schaut ihren Freund an, der sofort das Handy zückt und in den Innenraum hält. „Wie alt ist denn das Auto?“, fragt sie im gleichen Moment. „64 Jahre!“, antwortet ihr Freund. „Und das ist Elsa!“, antwortet der ältere Herr hinter mir, den ich schon fast vergessen hatte.  „Aber das Auto verbraucht doch bestimmt voll viel Benzin, oder?“ Ihre Stimme klingt etwas dumpf – ich hätte nie gedacht, dass Elsa so gut gedämmt ist. „Nur 8,5 Liter Super!“, höre ich die Frau sagen, die mich als erstes angesprochen hatte. Sie hockt vorne vor Elsa und fotografiert den VOLVO-Schriftzug. Buchstabe für Buchstabe. Ich frage mich lieber nicht, warum. Es ist heiß und das Nachdenken fällt mir noch schwerer als so schon. „Und wo hast du das Auto her? Vom Opa geerbt?“, fragt eine neue Stimme hinter mir. Ich habe schon in sechs Wochen einen Termin beim Ohrenarzt. Ich hätte nie gedacht, dass es so schnell gehen würde.

Eine dunkle Pilotenbrille mit goldenem Rahmen schaut mich an – ich bin mir unsicher, ob die nun noch aus den 80ern ist oder ganz aktuell. Sieht ja irgendwie alles gleich aus. Die BMW-Kappe auf dem Kopf ist schon ziemlich verblichen, doch dürfte besser vor einem Sonnenstich schützen als die strubbeligen Haare auf meinem Kopf. Das braun-beige-karierte Hemd spannt ziemlich über dem Bauch, es wirkt, als würden die Knöpfe bald abreißen und losschießen. „Ob Carglass auch schon einmal einen Knopfschlag reparieren musste?“, denke ich und merke erst dann die fragenden Blicke aller Menschen, die sich (wieder mit großem Abstand) im Halbkreis um Elsa und mich aufgestellt haben. „Nee, nee. Mein Opa fuhr Lada“, sage ich und merkte wie die Blicke von „fragend“ in „verwirrt“ umschwenken. „Ein weißer Samara!“, sage ich hinterher und bin von meiner Antwort selbst überrascht. Schnell schiebe ich die Geschichte von Elsa (Nikolaustag 1957 gebaut, dann nach Dänemark ausgeliefert, dort bis 1990 gefahren, dann nach Deutschland gekommen, 1999 wegen Rostschäden wieder nach Dänemark verkauft, dann 2013 von mir aus einer Scheune gerettet, 3 Jahre restauriert von mir „Learning by doing“-mäßig restauriert worden, seitdem glücklich unterwegs) hinterher. Alle hören gespannt zu. Nur kurz stocke ich. Der Mann mit der Pilotenbrille trägt Socken in Sandalen – neben dem Pärchen im Partnerlook hat das (trotz beigefarbener Dreiviertelhose) aber schon fast Stil.

Ich beantworte noch ein paar Fragen zur Ersatzteillage, zum 6-Volt-Licht und zur Technik, als die Frau, die den Stein ins Rollen brachte, auf einmal meint: „Aber wir sollten Sie nun auch nicht länger aufhalten. Ihr Eis schmilzt ja!“ Das Eis in meinem Kofferraum hatte ich schon ganz verdrängt. „Ohja, stimmt!“, antworte ich hastig und setze mich hinter das Lenkrad. Ich wünsche noch allen einen schönen Tag, doch sie haben nur Ohren für das brabbelnde Motorengeräusch, das der rotlackierte Vierzylinder von sich gibt. Das Hipster-Pärchen macht noch ein paar Fotos, als ich vom Parkplatz rolle. Ich lasse Elsa noch einmal hupen, als ich auf die Straße in Richtung Heimat fahre.

Das Eis konnte von meinem Gefrierschrank wiederbelebt werden. Nur eins (natürlich das erste, was ich mir rausnahm) war wohl schon so angetaut, dass der Stiel nun umgeben war von Eis. Doch die klebrigen Finger (und der Sonnenbrand auf meinen Unterarmen) störten mich überhaupt nicht. Es sind genau diese Geschichten, warum ich so gerne in meinem Oldtimer unterwegs bin. Andere Leute freuen sich über mein Hobby – und darüber freue ich mich noch mehr. Und auch wenn anscheinend viele Oldtimermenschen von Fragen nach Baujahr, Verbrauch und Wert genervt sind – mich stört das überhaupt nicht. Ist doch toll, wenn sich jemand interessiert. Nur eins habe ich gelernt:

Als Eiswagen ist Elsa nicht so gut geeignet.

Über Watt'n Schrauber

Autoverrückt, restauriert einen Buckelvolvo mit wenig Budget, mag Fotografieren, Tanzen und ist manchmal wohl ein wenig durcheinander. Und mag Norddeutschland.
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