Deine letzte Fahrt

„Wenn jemand eine Reise tut, dann kann er was erzählen“, meinte Matthias Claudius. Doch leider kann nicht jede Geschichte ein Happy End haben. Ich denke an dich!

Du warst immer gerne unterwegs.

Also, wenn du nicht gerade in deinem geliebten Garten gearbeitet hast oder du wieder einmal Besuch in deinem Wohnzimmer sitzen hattest. Das ging natürlich vor. Und du hattest oft Besuch. Fast jeden Tag schaute jemand bei dir vorbei. Du hattest dich schon so daran gewöhnt, dass du die Haustür tagsüber immer offen ließt. Kekse und Kaffee hattest du immer für deine Gäste parat und für die Nachbarskinder waren auch immer Süßigkeiten im Haus. Wenn wir am Wochenende vorbeischauten und du uns erzähltest, wer dich alles besucht hatte, war ich immer erstaunt. So viele Leute kannte ich nicht einmal. Die Leute schätzten deine Ehrlichkeit. Sie wussten – du sagst, was du denkst. Jeder wusste, wie er bei dir stand. Ab und zu kam es aber doch vor, dass wir dich besuchen wollten und du warst nicht da. Du bist gerne über den Wochenmarkt geschlendert und hast dich anschließend zur Freitagsrunde beim Bäcker am Eck gesellt.

Manchmal bist du aber auch einfach so im Dorf gewesen. Entweder hatten dich Leute zum Kaffee eingeladen oder du hattest jemanden zum Schnacken gefunden. Dich kannte jeder und du kanntest jeden. Und du wusstest immer, was im Dorf los war. Aber wirklich verwunderlich war das ja nicht, denn schließlich bist du in diesem Dorf ja auch geboren und aufgewachsen und bist dort nie wirklich weggekommen. Nur manchmal ging es nach Hamburg, zu deiner Schwester. Erst als dein Sohn und später auch dein Mann erst einen Führerschein und dann auch ein Auto hatten, entdecktest du eine neue Leidenschaft: Der Beifahrersitz wurde zu deinem Lieblingsplatz und die Windschutzscheibe ersetzte den Fernseher. Unheimlich gerne wurdest du durch die Gegend chauffiert und schautest dir die vorbeihuschende Landschaft durch die Frontscheibe an.

Immer auf Entdeckungsreisen

Die Entdeckungstouren, die du mit deinem Mann unternahmst, wurden mit der Zeit immer größer. Erst fuhr euch ein cobaltblauer Käfer quer durch Dithmarschen, später erkundetet ihr mit einem ockerfarbenen DAF 55 auch schon einmal ganz Schleswig-Holstein. Irgendwann gingen die Touren auch über die Landesgrenzen hinaus. Mal seid ihr bis nach Hamburg gefahren, häufig aber noch weiter bis nach Lüneburg, um dort eure Tochter und euren Enkel zu besuchen. Die Touren zu uns waren dagegen ja schon fast Kurzstrecken. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich oft an der Hand meiner Mutter auf der Auffahrt darauf gewartet habe, dass ihr endlich angefahren kamt. Doch irgendwann wurden die Fahrten weniger. Dein Mann wurde schwer krank und starb schlussendlich trotz deiner aufopferungsvollen Pflege.

Doch trotzdem du keinen Führerschein hattest, warst du danach noch viel unterwegs. Entweder warst du mit dem Fahrrad on Tour oder du fuhrst mit der Bahn quer durch Deutschland. Mit 80 Jahren bist du sogar noch nach Portugal geflogen. Irgendwann wurde dir das Fahrrad aber zu unsicher, ziemlich genau zu der Zeit, als ich gerade den Führerschein machte. Und so wurdest du für unzählige Touren einfach meine Beifahrerin. Beim Einsteigen hast du mir oft gesagt, dass ich mein Auto vielleicht einmal wieder aussaugen sollte. Der weiße Lada, den ihr zum Schluss hattet, wurde von dir schließlich auch jede Woche gründlich geputzt. Irgendwann hattest du mich tatsächlich soweit gebracht, dass ich vor jeder kleinen Tour mit dir das Auto noch einmal durchsaugte und den Staub wegwischte. So konntest du dich voll und ganz auf die Landschaften und Orte konzentrieren, durch die unsere Touren uns führten.

Die beste Beifahrerin der Welt

Meistens habe ich dich vorher angerufen, ob du Lust hättest eine Runde zu fahren. Eigentlich wusste ich, dass die Antwort „Ja“ lauten würde. Es hätte aber ja sein können, dass du gerade Besuch hattest. Wenn ich dann angefahren kam, saßt du meistens schon bereit und wartetest schon fast ungeduldig auf mich. Unsere Ziele legten wir erst fest, als wir schon im Auto saßen. Manchmal hattest du Wünsche, manchmal wolltest du dich von mir überraschen lassen. Oft kamen uns die Ideen für Ziele aber auch erst, als wir schon unterwegs waren und du mir deine spannenden und lustigen Geschichten von früher erzähltest. So fuhren wir häufig die Orte ab, die in deiner Kindheit und Jugend eine wichtige Rolle spielten. Ab und zu überraschte ich dich aber auch mit Fahrten in Gegenden, die du noch gar nicht kanntest. „Das ist viel besser, als zu Hause zu sitzen“, meintest du immer. Wir hatten auf unseren Touren immer riesigen Spaß. Manchmal spendiertest du mir ein Eis.

In meinem V40 mochtest du nicht so gerne mitfahren. Er war dir etwas zu niedrig, da konntest du nicht so gut ein- und aussteigen. Als ich mir dann meinen roten Golf Kombi kaufte, konnte ich dir den Beifahrersitz immer hochpumpen, das mochtest du schon viel lieber. Gleiches tat ich auch immer, wenn wir im Passat meiner Eltern unterwegs waren. Aber viel lieber mochtest du in den alten Autos mitfahren, du konntest meine Freude an meinem Hobby immer schon verstehen. Im Sommer fuhren wir manchmal im Cabriolet durch die Gegend und hatten dann beide einen Strohhut auf. Als ich Elsa fertig hatte, freutest du über die winkenden Leute und bestandest darauf, dass ich bei all deinen Freunden anhielt, damit du ihnen ganz stolz Elsa vorführen konntest. Trotzdem wurde mein Mercedes „Hein“ dein Liebling. Auf der ersten Fahrt mit ihm zeigten wir dir wieder einige Orte, die du seit deiner Kindheit nicht mehr besucht hattest. Als du wieder ausgestiegen warst, meintest du nur: „Mit dem fahre ich am liebsten!“

Erinnerungen sind das schönste Andenken

Es ist ziemlich genau ein Jahr her, dass uns die Ärzte sagten, wir müssten mit allem rechnen. „Sie ist ja schon 89“, hörten wir sie sagen. Jeden Tag war ich bei dir und jeden Tag hattest du noch ein Lachen auf deinen Lippen. Du hast dich nie kleinkriegen lassen. Vielleicht lag es an deiner Generation, die den Krieg durchleben musste und nicht jammerte, sondern einfach machte. Wahrscheinlich lag es aber einfach an deinem starken Charakter, der mich immer wieder beeindruckte. Eines Tages kam ich mit dem Mercedes vorgefahren und parkte ihn so, dass du ihn von deinem Zimmer aus sehen konntest. Als wir ankamen, zeigtest du nach draußen und meintest: „Wenn der Frühling da ist und alles blüht, fahren wir dann wieder durch die Gegend?“ Ich wusste sofort, dass alles gut wird. Und es wurde alles gut. Im Frühling, im Sommer, im Herbst und im Winter machten wir wieder zahlreiche Touren, die meisten davon in „deinem“ Mercedes. Ich genoss es sehr, neben dir zu sitzen und dir zuzuhören. Und du hast es genossen, Zeit mit mir zu verbringen. Zumindest hoffe ich das.

Heilig Abend saßen wir das letzte Mal zusammen im Auto. Auch das war schon zur Tradition geworden. Du hattest dieses Mal kein besonderes Ziel im Hinterkopf. „Ich lass mich überraschen!“, sagtest du mir, als wir losfuhren. Es war alles so wie immer. Ich steuerte das Auto, du erzähltest Geschichten von früher. Nur das Wetter war dieses Mal nicht so trüb und so verregnet wie die Jahre zuvor. Wobei, eigentlich schon. Nur als wir zu unserer Tour aufbrachen, schaute die Sonne auf einmal durch die tiefe Wolkendecke und es wurde schon fast angenehm mild. Ich hatte mir eine Route für dich ausgedacht. Nicht so lang wie in den letzten Jahren und auch nicht so lang wie unsere Touren im Sommer. Ich wollte mit dir aber noch einmal alle Plätze abfahren, die dir am meisten bedeuteten. Unter anderem fuhren wir an deinem Elternhaus vorbei und auch das Tanzlokal besuchten wir, das siebzig Jahre später als Discothek immer noch existiert. Es war vielleicht nicht die längste Tour, doch eindeutig die intensivste. Wir sangen sogar zusammen Weihnachtslieder. Als ich dich nachts wieder an deinem kleinen Häuschen absetzte, freute ich mich schon auf unsere nächste Fahrt.

Und jetzt ist es mitten in der Nacht, es ist gleich halb drei. Ich konnte einfach nicht mehr schlafen. Zu viele Gedanken schwirren mir seit Tagen durch den Kopf. Diese Geschichte besitzt nämlich kein Happy End. Zumindest für uns. Als wir uns weinend in den Armen lagen, bist du ganz friedlich und ruhig zu deiner letzte Reise aufgebrochen. Und egal, wohin dich diese Reise führen wird, du bleibst fest in meinem Herzen.

Ich werde dich ganz bestimmt nicht vergessen, Oma.

Mach es gut und danke für alles.

Über Watt'n Schrauber

Autoverrückt, restauriert einen Buckelvolvo mit wenig Budget, mag Fotografieren, Tanzen und ist manchmal wohl ein wenig durcheinander. Und mag Norddeutschland.
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14 Antworten zu Deine letzte Fahrt

  1. Lieber Lars,

    mein tief empfundenes Beileid.

    Andreas

  2. Wüthrich sagt:

    Lieber Lars,

    Mein herzliches Beileid.

    Ich wünsche Dir viel Kraft.
    Gruss aus der Schweiz
    Jean-Pierre

  3. dieter sagt:

    Herzliches Beileid Lars, bin in Gedanken bei dir, kann gut nachfühlen wie es ist einen geliebten Menschen zu verlieren !

    Wünsche euch viel Kraft und alles Gute um diese schwere Zeit zu meistern.

    Herzlichst

    dieter

    • LarsDithmarschen sagt:

      Hey Dieter,

      vielen Dank für deinen netten Kommentar! 🙂 Man muss immer nach vorne sehen – anders geht es ja nicht.

      Schöne Grüße
      Lars

  4. thorsten sagt:

    Mein tief empfundenes Beileid, Lars.

    Auch ich kann das gut nachfühlen und wünsche euch viel Kraft.

    Ich hab nach dem Lesen dieses wundervoll geschriebenen Beitrags Tränen in den Augen, manche Verluste sind auch nach Jahren nur schwer zu ertragen.

    Auf bald.

  5. David sagt:

    Hey Lars,
    Mein Beileid.

    Es ist immer schwer geliebte Menschen zu verlieren. Mit zunehmenden Alter gewöhnt man sich zwar daran, leichter wird es aber trotzdem nicht…

    Ihr macht das schon und packt das…

    Grüße aus Friedrichstadt

    • LarsDithmarschen sagt:

      Hey David,
      vielen Dank für deine Beileidsbekundung.
      Egal, wie alt Menschen werden – zu früh ist es doch immer 🙂
      Ich hoffe, dass wir uns dieses Jahr wiedersehen. Vielleicht sogar bei Watt’n Törn?
      Schöne Grüße
      Lars

  6. Sandmann sagt:

    Oh mein Gott.
    Ich weiß ja, dass du immer mit Fröhlichkeit nach vorn schaust, aber das ist SO traurig 🙁 Ich zünde ein virtuelles Kerzchen für unsere Omas an.
    Auf bald.
    Sandmann

  7. Carsten sagt:

    Ich bin sprachlos, sprachlos über diese schöne Kurzgeschichte die keine Geschichte ist und kein Happy End hat. Trotzdem geht sie einem nah und zeigt das es so schön sein kann…

    • LarsDithmarschen sagt:

      Hey Carsten,
      vielen Dank für deinen lieben Kommentar! Ich freu mich sehr, dass dir die Geschichte gefällt 🙂
      Schöne Grüße
      Lars

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