Auf den Spuren meiner Mutter

Heute möchte ich euch erzählen, wie mir ein ganz bestimmter Traum erfüllt wurde. Lasst uns gemeinsam auf Zeitreise gehen. Einmal in das Jahr 1976 und in das Jahr 2019.

„Siehst du, das hast du wohl von mir!“

Es war an einem Freitagabend im Sommer 2019. Die Sonne war noch nicht ganz untergegangen und es fühlte sich an, wie ein schöner, lauer Sommerabend. Wahrscheinlich, weil es ganz einfach einer war. Ich saß zusammen mit meiner Mutter in dem Strandkorb, der im Garten meiner Eltern steht und im Sommer immer ein schönes Plätzchen ist. Wir schauten uns ein altes Fotoalbum an. „Velofix selbsthaftend“ stand vorne auf dem braun eingeschlagenen Album, doch das ist eigentlich gar nicht so wichtig. Viel wichtiger waren die Bilder, die in dem Album klebten und mir von meiner Mutter gezeigt wurden. Es waren nämlich Bilder von dem ersten Roadtrip, den sie unternahm. 1976 fuhr sie mit ihrer Freundin Rita den ganzen Weg von der schleswig-holsteinischen Nordseeküste nach Österreich – eine Reise, die ich nur ein paar Tage später ebenfalls zum zweiten Mal antreten würde.

„Auf der Hintour haben wir einmal übernachtet, ich glaube in Heidelberg“, erzählte Sie mir, während sie auf die nächste Seite blätterte. Auf den Fotos sehe ich das Hotelzimmer der beiden. Braune Möbel, eine Tapete, die heute als Körperverletzung gelten würde und mittendrin meine Mutter. 22 Jahre alt und das erste Mal in den Bergen. Ich musste kurz grinsen. Auch ich war ein Jahr zuvor mit 22 Jahren das erste Mal in den Bergen gewesen – und mein Hotelzimmer sah dem auf den Fotos sogar noch ziemlich ähnlich. „Auf der Rücktour aber nicht, da bin ich in einem Rutsch nach Hause gefahren, so wie du letztes Jahr!“ Meine Mutter grinste mich an. „Ohne Mist?“ So ganz konnte ich ihr das nicht lauben. Ich hatte die Strecke 2018 schließlich in einem gemütlichen Mercedes gefahren und fand es echt anstrengend. In einem Kadett konnte das nicht angenehmer sein. „Hast du überhaupt schon mal in einem gesessen?“, fragte meine Mutter auf meine Einwände fast böse.

Darf ich vorstellen? Das ist Thomas.

Thomas und ich kannten uns schon ein paar Jahre – allerdings nur virtuell. Ich bin mir nicht mehr sicher, ob wir uns über das inzwischen verstorbene Altblech-Forum oder über das Alltagsklassiker-Forum kennengelernt haben – aber eines von beiden war es ganz sicher wohl. Auf jeden Fall haben wir seitdem öfter mal fleißig über alte Autos geschrieben. Thomas hat nämlich auch so richtig Benzin im Blut. Legenden besagen, dass er sogar schon als ungeborenes Kind anfing, ganz stark zu treten, als seine Eltern gerade über ein Oldtimertreffen schlenderten. Und so ganz abwegig ist es auch nicht. Der großgewachsene Österreicher hat nämlich über die Jahre eine beachtliche Sammlung an alten Autos zusammengetragen. Persönlich kennengelernt habe ich ihn in einem Mazda 323 Kombi, mit dem er bei dem liebevoll von Anja und Micky organisierten Cruise’n’Grill 2019 teilgenommen hatte. Hier saßen wir am Ende der Ausfahrt auch an einem Tisch – und Thomas lud mich spontan zu sich ein.

Ich kann euch gar nicht so genau sagen, wie viele Autos Thomas eigentlich hat. Auf jeden Fall sind es mehr, als ich zählen kann. Wobei ich wohl recht sicher behaupten kann, dass die meisten Fahrzeuge von Opel sind. Für alte Opel hat Thomas nämlich so eine kleine Schwäche. Das lag bestimmt an seinem ersten Auto. Sein erstes Auto war nämlich ein 1979er Opel Kadett D Caravan, den er für 3000 ÖS (ungefähr 220€) aus erster Hand kaufte – und sogar noch heute besitzt. Zum Glück besitzt Thomas auch eine große Halle, denn ein Opel bleibt anscheinend selten allein. Fast die ganze Modellhistorie hat sich der sympathische Herr aus der Steiermark inzwischen zusammengesammelt und zeigte sie mir auch ganz stolz. Einige Autos brauchen wohl noch etwas Arbeit, andere standen dafür richtig schick da. Da eine Marke alleine aber langweilig ist, stand auch ab und zu noch ein alter Japaner dazwischen. Abwechslung muss sein.

Doch ich hatte nur Augen für die Kadetts.

Ist „Kadetts“ eigentlich der richtige Plural für die Kompaktwagen von Opel? Ich bin mir nicht sicher – ist aber ja auch ganz egal. Es hört sich in meinen Ohren zumindest ganz richtig an. Ende der 50er Jahre erhielt Opel von General Motors den Auftrag, einen Kompaktwagen als direkten Konkurrenten zum VW Käfer zu entwickeln. Die Entwicklung lief dabei erstaunlich geheim ab – nur durch den Neubau des Opel-Werkes in Bochum ahnten die Leute, dass in Rüsselsheim an einem neuen Modell getüftelt wurde. 1962 wurde dieser Wagen schlussendlich vorgestellt. Der Name „Kadett“ war dabei übrigens schon vielen Kunden gut bekannt. Bereits zwischen 1936 und 1940 lief nämlich ein Kompaktwagen mit diesem Namen vom Band, der nach dem Krieg eine zweite Karriere als Moskwitsch 400 erlebte. Eine steile Karriere erreichte aber auch der erste Nachkriegs-Kadett, der Kadett A. Besonders aufgrund des tollen Platzangebotes (Ein Nachteil beim Käfer) wurde der Opel Kadett zu einem richtigen Verkaufsschlager und zu einem starken Konkurrenten des Käfers. Fünf Generationen liefen zwischen 1962 und 1993 vom Band und machen den Kadett für die deutsche Automobilgeschichte damit so wichtig wie den VW Golf oder den Käfer. Irgendwie fuhr in jeder Familie ein Kadett.

 Auch in meiner Familie wurde Kadett gefahren. Nach einem Käfer (immerhin ein „Export“!) entschied sich mein Opa Ende der 60er Jahre auch für einen Kadett. Er kaufte bei einem befreundeten Opel Händler einen gebrauchten Opel Kadett B – noch ein ganz frühes Modell mit schmalen Rückleuchten und Blattfedern an der Hinterachse. Der leistete meinem Opa auch einige Jahre treue Dienste – wenn er auch nicht viel fuhr. Zur Arbeit ging er zu Fuß und gefahren wurde höchstens Mal zum Wochenmarkt oder zu Verwandtenbesuchen. Das änderte sich dann, als meine Mutter ihren Führerschein machte und dem Kadett häufiger Auslauf bescherte. Ich weiß gar nicht so genau, warum mein Opa 1975 einen gebrauchten, beigefarbenen Kadett C bei einem Opelhändler in Tönning kaufte. Ob er wohl Lust auf ein anderes Auto hatte? Vielleicht. Dieser Kadett war es übrigens auch, mit dem meine Mutter im gleichen Jahr auf ihren ersten Roadtrip aufbrach. Nach Österreich.

„Lust auf eine Runde im Kadett?“

Anscheinend waren Thomas meine Blicke auf seine Kadetts aufgefallen. Bis zu dem Zeitpunkt hatte ich zwar schon viele Kadetts bewundert, aber noch nie in einem gesessen. Ich glaube, ich musste schon grinsen, als seine Frage noch durch den Hohlraum in meinem Kopf hallte. Er deutete auf den 1974er Kadett C, der neben uns stand und (bis auf die Farbe) dem Kadett meines Opas damals ziemlich ähnlichsah. So wirklich realisiert habe ich das alles wohl erst einige Minuten später, als der Kadett schon Betriebstemperatur erreicht hatte und wir gemütlich durch die Gegend fuhren. Ich weiß, dass es sich jetzt dusselig anhört – aber es war immer ein Traum von mir, einmal in einem Kadett mitzufahren. Andere Leute träumen von Touren in einem Ferrari oder einem Porsche Turbo, ich wollte aber als kleines Kind schon immer mal in einem Kadett mitfahren. Und genau das tat ich. In einem C-Kadett durch Österreich – wie meine Mutter 43 Jahre zuvor.

Irgendwann hielt Thomas einfach an und fragte, ob ich nicht einmal eine Runde fahren wollte. Natürlich wollte ich mir die Chance nicht entgehen lassen – doch irgendwie war ich gleichzeitig total nervös. 23 Jahre musste ich werden, um einmal in einem Kadett zu sitzen und sollte ihn dann auch noch gleich fahren. Ich hatte ein bisschen Schiss, dass es so eine „Never meet your heros“-Situation sein sollte, denn ich bin durchaus schon Autos gefahren, die ich total mochte, die mich dann vom Fahrverhalten her aber ziemlich enttäuscht haben. Doch schon nach wenigen Metern wusste ich, dass der Kadett von Thomas mich nicht enttäuschen würde. Ich weiß ja nicht, ob ihr schon mal einen Kadett gefahren seid – aber der fährt schon echt modern und wirklich gut. Ich habe meinen Opa nie kennengelernt und konnte ihn nie fragen – doch irgendwie verstand ich sofort, warum er sich damals für einen Kadett entschied.

Wenn wohl auch nicht für einen Kadett wie diesen

Meine Mutter weiß nicht mehr, was der Kadett von meinem Opa für eine Ausstattung hatte – aber über den Kadett von Thomas kann ich euch einiges erzählen, denn der hat auch durchaus eine interessante Geschichte. Bei diesem Kadett C handelt es sich nämlich um einen Wagen in einer richtigen Nullausstattung. Rundherum bremsen vier Trommelbremsen ohne Bremskraftverstärker den Wagen, die Scheibenwaschanlage ist noch ganz mechanisch und im Innenraum gibt es Gummimatten statt Teppich. Immerhin orderte der Generalimporteur Salis und Braunstein, bei dem der Kadett erst als Vorführwagen lief, die knackige Sportschaltung. Die hat einen kleineren, wesentlich sportlicheren Ganghebel. 2013 kaufte Thomas den Kadett, der kurz zuvor einen Motorschaden erlitten hatte. Im Handumdrehen baute er einen neuen Motor ein, rüstete Sitze mit Kopfstützen nach, machte den Wagen wieder schick und brachte ihn zurück auf die Straße. Und seitdem fährt der Wagen einfach nur. Opel – der Zuverlässige. Damals hat die Werbung noch nicht gelogen.

Als ich noch über das wunderbare Fahrverhalten, das erstaunlich leise Innenraumgeräusch und die leichte Lenkung philosophierte, erzählte mir Thomas, dass wir gerade über die ehemalige Gastarbeiterroute fuhren. Sofort klingelte etwas – davon hatte mir meine Mutter nämlich auch erzählt, als wir durch das Album geblättert hatten. Die so genannte Gastarbeiterroute war die Hauptreisestrecke zwischen München und Istanbul. Zu Spitzenzeiten fuhren bis zu 40 000 Autos am Tag über eben diese Strecke. Leider waren die Fahrer oft total übermüdet und die Autos viel zu überladen, weshalb es entlang dieser Strecke nicht nur zu sehr vielen, sondern auch zu sehr schweren Unfällen kam. So richtig begreifen konnte ich das irgendwie nicht. Auch meine Mutter erzählte von schweren Unfällen und von Staus. Das wollte mir nicht in den Kopf. Alles wirkte so friedlich, als wir als einziges Auto weit und breit über die Straße fuhren.

Traum erfüllt

Irgendwann wurde es dunkel und der Regen setzte wieder ein. Es war noch ein ganzes Ende bis ins Hotel zurück nach Graz, also musste ich mich irgendwann wohl oder übel von Thomas und seinem Kadett verabschieden. So wirklich wollte ich das eigentlich gar nicht, denn der Kadett hat mir wirklich Spaß gebracht und mit Thomas kann man sich super unterhalten. Ich weiß, dass ich das schon oft erzählt habe, aber so ein Kadett könnte mir tatsächlich auch irgendwann noch einmal gefallen. Ein Gruppenfoto von Hein und dem Kadett musste noch sein und dann ging es tatsächlich zurück ins Hotel. Vielen Dank Thomas, dass du mir diesen Traum einmal erfüllt hast! Wirklich!

Als ich ein paar Tage später im Norden war und mich mit meiner Mutter unterhielt, erzählte ich von meinem kleinen Kadett-Abenteuer. „Das sind schöne Autos, oder?“, sagte sie mit einem triumphierenden Grinsen – und sie hatte recht. Der beigefarbene Kadett C, der meine Mutter nach Österreich und zurück gebracht hatte, war kurz darauf übrigens nicht mehr ganz so zuverlässig. Erst starb die Wasserpumpe, kurz danach als Folgeschaden auch noch die Kopfdichtung. Opa gab den reparierten Wagen dann für seinen ersten Neuwagen in Zahlung. Es wurde wieder ein Kadett, dieses Mal in hellblau. Es sollte sein letzter Wagen werden. 1980 starb mein Opa ganz plötzlich und meine Mutter übernahm den Wagen noch für einige Zeit. Bis auch sie irgendwann ihren ersten Neuwagen kaufte. Wollt ihr raten, was es war?

Genau, ein Opel Kadett. Oder kurz gesagt: O.K.


Vielen Dank und schöne Grüße an Thomas! Das war wirklich ein toller Nachmittag!

Über Watt'n Schrauber

Autoverrückt, restauriert einen Buckelvolvo mit wenig Budget, mag Fotografieren, Tanzen und ist manchmal wohl ein wenig durcheinander. Und mag Norddeutschland.
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4 Antworten zu Auf den Spuren meiner Mutter

  1. Lars sagt:

    Moin Lars,
    interessante Geschichte und schön geschrieben.
    Kadett C war vor 29 Jahren mein ersten Auto. Damals ein billiger gebrauchter. Heute fahre ich immer noch Kadett C, aber nicht mehr als Alltagsauto. Und bis nach Österreich bin ich in den 90ern auch zwei mal gefahren.
    Gruß aus Bad Nenndorf
    Lars

    • LarsDithmarschen sagt:

      Hey Lars,
      vielen Dank für den netten Kommentar!
      Was für einen C-Kadett fährst du denn heute? Ich habe auch mal ein bisschen nach einem C-Kadett geschaut, doch leider sind die ja wirklich teuer geworden. Vielleicht aber auch ganz gut so – meine Garage ist schließlich schon voll 🙂
      Schöne Grüße
      Lars

  2. Lars sagt:

    Moin Lars,
    Fahre ein Coupé und einen Aero. Beide 1200er und im original Look.
    Ja, die Preisentwicklung ist wirklich interessant. Genau wie Dein Blog, das ich regelmäßig lese.
    Gruß Lars

    • Watt'n Schrauber sagt:

      Hey Lars,
      das freut mich ja, dass du ihn regelmäßig liest. Irgendwann muss ich auf jeden Fall einmal einen alten Opel (am liebsten natürlich einen Kadett) haben. Ich arbeite dran! 😉

      Schöne Grüße
      Lars

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